„[Anatoli] Naimann [Achmatowas einstiger Sekretär, Vertrauter und Freund] allerdings konnte, sich vieler vertrauter Gespräche erinnernd, keine Wirkung eines Cupido-Pfeils ausmachen. Er entsinnt sich aber einer ihrer »sogenannten ›Übertreibungen‹« ganz anderer Art: Sie war überzeugt davon, daß der Stalinsche/Schdanowsche Bannfluch von 1946 eine unmittelbare Folge des nächtlichen Besuchs gewesen sei. Für Naimann eine subjektiv verständliche, aber nicht überzeugende Schlußfolgerung. Als Literaturhistoriker und Schriftsteller interessieren ihn Fakten. Insofern ist er sicher, daß die wesentlichste, evidente Wirkung des Berlin-Besuchs darin bestand, daß die Dichterin eine Ermutigung für ihr »englisches Thema« erfahren habe. Dieses »Thema« hatte sie aufgenommen, nachdem ihre Jugendliebe B. W. Anrep 1917 nach England emigriert war. Um diese Zeit hatte Anna Achmatowa begonnen, Shakespeare im Original zu lesen, und bis zu ihrem Lebensende verwendete sie Motive seiner Dramen sowie aus den Werken von Byron, Shelley, Keats, Joyce und Eliot, und ebenso sind Einflüsse von Dichtern wie Vergil, Horaz, Dante und Baudelaire von Literaturhistorikern hervorgehoben worden. Jener nächtliche Besucher aus der westlichen Welt hatte also für einen Augenblick der außerordentlich gebildeten Poetin eine Tür zu einer lang ersehnten Welt des freien geistigen Austauschs geöffnet. Als Zeugnisse dafür stehen die Gedichtzyklen Cinque, Die Heckenrose blüht und auch die von ihr verfügte dritte Widmung des Poems ohne Held für Isaiah Berlin.“
Beate Reisch: Leben, Liebe, Dichtung. [(kritische) Rezension zu] György Dalos: Der Gast aus der Zukunft. Anna Achmatowa und Sir Isaiah Berlin. Eine Liebesgeschichte. Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1996, ISBN 3-434-50083-9. In: www.luise-berlin.de, abgerufen am 1. März 2016.